Auditive Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstörung (AWVS)

Mutter liest ihrem Sohn vor
Kinder mit AWVS langweilen sich beim Vorlesen schnell
Foto: © S.Kobold

Inhaltsverzeichnis für diesen Artikel:

Was ist eine AWVS?

"Mama, wo bist du?" ruft Benjamin, sieben Jahre, suchend in der Diele seines Elternhauses. "Hier, was ist los?" ruft die Mutter aus einem anderen Zimmer. Genervt ruft Benjamin erneut: "Mama, wo bist du denn?" Nicht minder genervt als ihr Sohn ruft die Mutter erneut: "Na hier, komm bitte her, wenn du etwas möchtest!" Da tönt es zurück: "Aber ich weiß nicht, wo du bist!" Erst als die Mutter sagt, dass sie in der Küche steht, weiß Benjamin, wohin er gehen soll. Er war nicht in der Lage, die Richtung, aus der die Stimme kam, zu orten.

Für Kinder und Erwachsene mit einer Auditiven Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstörung, kurz AWVS, ist dies eine alltägliche Situation. Obwohl zum Beispiel bei Kindern während der U-Untersuchungen beim Kinderarzt oder dem Einschulungstest eine hundertprozentige Hörfähigkeit festgestellt wird, hören die Betroffenen eben anders.

Bei einer AWVS liegt eine Störung in der zentralen Hörverarbeitung vor. Das Ohr nimmt die Geräusche zwar vollständig wahr, doch bei der Weiterleitung und der Verarbeitung zwischen dem Innenohr und dem Gehirn treten Probleme auf. Experten schätzen, dass ca. zwei bis drei Prozent aller Kinder diese Störung haben. Jungen sind dabei doppelt so häufig betroffen wie Mädchen.

Worin liegen die Ursachen?

Die Ursachen einer AWVS sind nach wie vor nicht eindeutig erklärbar. Auffällig ist jedoch, dass bei vielen Kindern ähnliche Anamnesen aufgetreten sind. So zum Beispiel häufige Mittelohrentzündungen oder Paukenergüsse im Kleinkindalter. Ein Großteil der Kinder begann sehr spät zu sprechen. Neben mangelnder Förderung im Kleinkindalter oder einer familiären Häufung von AWVS können die Gründe ebenso in einer Frühgeburt oder in Sauerstoffmangel während der Geburt liegen. Oft trifft jedoch keine dieser Ursachen zu und die Hintergründe der Störung bleiben im Dunkeln.

Welche Symptome fallen Eltern bei einer AWVS auf?

Dass Eltern alles zehn Mal sagen müssen, kennen die meisten. Doch neben den oben beschriebenen Problemen beim Richtungshören weisen noch viele weitere mögliche Details auf eine AWVS hin.

So zum Beispiel, dass sich betroffene Kinder die Ohren in lauten Situationen zuhalten, die Sprachentwicklung erst sehr spät beginnt und trotz intensiver Förderung nicht voranschreiten will. Typisch ist ebenso, dass sehr viele Kinder Probleme in der auditiven Merkspanne haben. Werden sie zum Beispiel in ihr Zimmer geschickt, um Farben, einen Pinsel und Papier zu holen, ist es für sie schon ein Erfolg, wenn sie nach dieser mündlichen Aufforderung in ihrem Zimmer den Farbkasten finden.

Kinder mit einer AWVS haben zudem häufig Schwierigkeiten, Störgeräusche zu filtern. Sie sind nicht in der Lage, den Bleistift, der vom Tisch fällt oder die vorbeifahrende Straßenbahn, als unwichtig zu erkennen und lassen sich sehr schnell ablenken. Dies zieht vor allem in der Schule Konsequenzen nach sich. Denn auch hier stellt sich die Herausforderung, aus vielen Stimmen die mündlichen Anweisungen des Lehrers zu filtern. Diktate schreiben hat oft Wortauslassungen und Fehler zur Folge, manchmal vergessen die Kinder ganze Satzteile niederzuschreiben. Während die meisten Kinder es lieben, abends noch eine Geschichte vorgelesen zu bekommen, sind Kinder mit einer AWVS meist sehr schnell gelangweilt, es fällt ihnen schwer sich zu konzentrieren und zuzuhören, sie werden sehr unruhig. Typisch für die Erkrankung ist ebenso die Neigung, Endungen wegzulassen, gleich klingende Buchstaben wie b und p oder ähnlich klingende Wörter zu verwechseln, so wird aus der Mietze die Niete. Umso schwerer fällt es den Betroffenen auch, Texte oder Gedichte auswendig zu lernen oder gar eine Ansage über einen Lautsprecher oder in einer Turnhalle durch die Mitspieler beim Mannschaftssport wahrzunehmen. Viele Eltern berichten, dass ihr Kind förmlich am Fernseher oder dem Radio klebt und sie diese oft viel zu laut einstellen.
Nicht immer treffen alle diese Symptome zu, doch oft treten mehrere gleichzeitig auf, was es den Kindern im Alltag sehr schwer macht.

Wie wird die Störung festgestellt?

Kind beim Hörtest
Um AWVS festzustellen werden verschiedene Test durchgeführt - Foto: © MAST

Haben Eltern, Lehrer, Logopäden oder Erzieher eines Kindes den Verdacht, dass etwas mit dem Gehör nicht stimmt, wird ein Phoniater einbezogen. Nicht jeder HNO-Arzt besitzt die Ausbildung und die technischen Voraussetzungen, bei Kindern eine entsprechende Diagnose zu stellen. Spezielle Pädaudiologen testen in aufwendigen Verfahren, ob es sich um eine AWVS handelt. Dafür ist nicht nur eine gründliche Anamnese im Vorfeld nötig, sondern auch die Gewissheit, dass das periphere Hörvermögen in Ordnung ist und keine organische Störung vorliegt. Zusätzlich wird im Voraus überprüft, welches allgemeine Intelligenzprofil das Kind zeigt. Um konzentrationsbedingte Fehler bei den Testresultaten zu vermeiden, wird das Verfahren bei auffälligen Befunden nach einiger Zeit wiederholt.

Was geschieht nach der Diagnose?

Besteht Gewissheit, dass es sich um eine AWVS handelt, wird für den Patienten ein Therapieplan entwickelt. Die Auditive Wahrnehmuungs- und Verarbeitungsstörung ist als Diagnose von den Krankenkassen anerkannt. Meist folgt eine logopädische Behandlung, eventuell auch eine Ergotherapie. Die Kinder trainieren dabei, mit ihrer Erkrankung umzugehen. Sie lernen zum Beispiel von den Lippen zu lesen oder schulen mit Übungen ihre auditive Merkspanne. In der Schule wird der ideale Sitzplatz ermittelt, die Lehrer in die Therapie einbezogen. In der Regel werden zur Sicherheit zusätzlich weitere Begleitbefunde abgeklärt, die durchaus mit einer AWVS einhergehen können. So etwa: einer
Lese- und Rechtschreibschwäche, eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung, eine eventuelle Sprachentwicklungsverzögerung oder Hyperaktivität.

Was können Eltern zu Hause für Ihr Kind tun?

Nach der Meinung vieler Experten ist eine AWVS nicht heilbar, jedoch lässt sie sich durch viel Training und Tricks beherrschen. Spielerisch lernen Kinder immer noch am besten, daher hilft es sehr, auch außerhalb des Therapieplans mit den Kindern zu üben. Einfache mündliche Spiele, wie "Ich packe meinen Koffer...", Geräusche-Raten oder Hörmemory lassen sich gut in den Alltag, zum Beispiel auf einer Autofahrt oder beim Spazierengehen integrieren. Zusätzlich sind viele Brettspiele und Computerprogramme im Handel erhältlich, die das Lernen unterstützen.

Eltern vermeiden es besser, dem Kind mündliche Aufträge zuzurufen. Am besten ist, die Hand der Eltern wird auf die Schulter gelegt, dem Kind wird in die Augen geschaut und der Auftrag muss vom Sohn oder der Tochter wiederholt werden.

Eltern von Kindern mit einer Auditiven Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstörung haben es nicht leicht mit ihrem Nachwuchs. Doch sollten sie nicht aus den Augen verlieren, dass es das Kind in seiner Umwelt noch viel schwerer hat.
Text: C. D. / Stand: 14.05.2022

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[Bitte beachten Sie: Unsere Artikel können nicht den Rat eines Arztes ersetzen. Bei gesundheitlichen Problemen wenden Sie sich bitte immer an einen Arzt Ihres Vertrauens!]

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